Blick nach Norden auf eine Mauer entlang der Bahnlinie, auf die vor einigen Jahren (wohl vor 2006) der Text ›Welcome 2 Grunn – Mien Stad‹ (Willkommen in Groningen – Meine Stadt) gesprayt wurde. Laut semioffizieller Groninger Orthografie müsste es stattdessen ›Grunnen‹ heißen, aber in diesem Fall spricht einiges für die regelwidrige, kürzere Schreibweise: Sie macht das Wort kompakter und verdeutlicht die für den Groninger Dialekt typische Aussprache, bei der ›-en‹ in der Silbenkoda zu bloßem [n] reduziert wird, das in diesem Fall mit dem [n] davor zu einem längeren [n] verschmilzt. Wie immer dem sei: ein netter Schriftzug am rechten Platz, der schon Millionen von Reisenden ein paar Meter vor dem Hauptbahnhof gezeigt hat, wo sie im Begriff sind, einzutreffen.
Archiv für den Monat: März 2014
Es gilt das gesprochene Wort: Schriftarten für IPA-Transkriptionen
Das Internationale Phonetische Alphabet (IPA) ist das wohl präziseste und weltweit verbreitetste System, um Sprachlaute zu notieren. Der mit der Präzision einhergehende Nachteil ist der Bedarf an einer Vielzahl von Zeichen, die keine andere mit dem lateinischen Alphabet geschriebene Sprache mitbringt – im wahrsten Sinne des Wortes ›Sonderzeichen‹. IPA-eigene Diakritika ausgenommen dürfte es rund 75 Zeichen gehen, die teilweise komplett neu gezeichnet werden müssen bzw. aus existierenden Buchstaben abgeleitet werden können. Die Zielgruppe, die diese Zeichen benötigt, ist ziemlich klein. Die Zahl derer, die darüber hinaus Wert auf eine ansprechende Gestaltung der Zeichen legen, ist verschwindend. Dementsprechend machen sich überhaupt nur wenige Schriftdesigner die Mühe, ihren Schriften Lautschrift hinzuzufügen. Ich habe eine Liste von immerhin knapp 40 Schriftarten zusammengestellt, die über einen vollständigen Satz IPA-Zeichen verfügen. Wo möglich, werde ich einige Anmerkungen zur Brauchbarkeit der Zeichen für typografisch anspruchsvolle Projekte machen.
Vorab möchte ich allerdings auf einen kleineren Richtungsstreit unter den Schriftgestaltern hinweisen: Er betrifft die Frage, inwieweit von lateinischen Buchstaben abgeleitete IPA-Zeichen eine eigenständige, chirographische – also vom Schreiben mit der Hand beeinflusste – Form bekommen sollten. Schauen wir uns die folgenden vier Reihen von Buchstaben an:mini
Man sieht, dass ›n‹ und ›u‹ in beiden Schriften jeweils ihre eigene Serifenstruktur haben. Die Fußserifen des ›n‹, die unten horizontal sind und sich zu beiden Seiten der Vertikalen ausdehnen, sind in ihrer neuen Position als Kopfserifen des ›u‹ angeschrägt und halbiert, während dort die – beim ›n‹ noch schräge – Kopfserife als neue Fußserife begradigt wurde (Randbemerkung: Man könnte auch andersherum argumentieren; es liegt mir fern, anzudeuten, ›u‹ sei aus ›n‹ hergeleitet oder umgekehrt). Diese Veränderungen sind bei jeder gut gezeichneten Antiqua zu beobachten – aber muss diese selbstverständliche Anpassung auch für ›m‹ bzw. ›r‹ und ihre ›Kinder‹ gelten? Die Charis bietet hier schlicht unverändert gedrehte Zeichen an, während der Gestalter der Gentium, Victor Gaultney, die IPA-Zeichen analog zu dem ›n‹/›u‹-Paar gezeichnet hat. Mir erscheint letztere Lösung besser; die Zeichen wirken organischer und stehen weniger steif auf der Zeile, ganz abgesehen von dem Gewinn an Konsistenz, wenn das abgeleitete neben dem zugrunde liegenden Zeichen steht. Man kann indes nicht davon ausgehen, dass diese Präferenz von allen Schriftgestaltern oder -nutzern geteilt wird. Zudem dürfte einigen Designern die Zeit und Muße fehlen, sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen und ggf. eine befriedigendere Lösung als die bloße Spiegelung von Zeichen zu erarbeiten.
Hier nun die Liste, zu der Ergänzungen sehr willkommen sind. Alle Illustrationen sind Beispieltranskriptionen, die ohne manuelle Anpassungen in InDesign gesetzt wurden. Sie zeigen keinen fehlerfreien Satz, sondern, im Gegenteil, mitunter fehlende oder falsch platzierte Zeichen:
WeiterlesenPoetsen
Und noch ein gelöstes Rätsel: Welche Schriftart verwendet die niederländische Bahn (NS) auf einem aktuellen Flyer zur OV-Chipkaart, einer Karte für den bargeldlosen Erwerb von Fahrkarten für öffentliche Verkehrsmitteln? Der Flyer ist (ausschnittweise) hier zu sehen:
Die Hausschrift der NS, Frutiger, kommt auf dem Flyer ebenfalls zum Einsatz, aber mich interessierte die handschriftlich angehauchte Schriftart, die für die Überschriften verwendet wurde. Und die entpuppte sich – wer hätte das gedacht? – als Freefont. Es ist die Poetsen von Rodrigo Fuenzalida und Pablo Impallari, deren erste Version 2012 veröffentlicht wurde.
Ich weiß nicht, warum sich Fuenzalida (aus Venezuela) und Impallari (aus Argentinien) für ›Poetsen‹ als Namen ihrer Schrifart entschieden haben. Witzig ist in jedem Fall, dass die Poetsen jetzt verwendet wird, um Text in der – abgesehen von Afrikaans – wohl einzigen Sprache der Welt darzustellen, in der der Name der Schriftart etwas bedeutet, nämlich ›Putzen‹. Saubere Sache.
Auf Nachfrage hat mich der ›Vater‹ der Schriftart, Rodrigo Fuenzalida, wissen lassen, dass der Name der Schriftart tatsächlich vom niederländischen Wort für ›Putzen‹ abgeleitet ist. Die Schriftart basiert allerdings nicht auf niederländischen Vorlagen und der Designer hat – außer seiner Bewunderung für niederländische Schriftgestaltung – keine Bezüge in die Niederlande. Er fand das Wort wohl nur witzig und wollte ausdrücken, dass die ›Poetsen‹ sein Versuch ist, eine »handgeschriebene Pinselschrift durch die Verwendung klassischer Buchstabenportionen aufzupolieren« – oder eben aufzuputzen.
Auf ein Wort (15): Gert Jõeäär
Gert Jõeäär estn. [ˌkert ˈjɤ̯eæːr]
Zum Vokalphonem /ɤ/:
»The unrounded back vowel /ɤ/ can be realized depending on the speaker as a mid back vowel [ɤ], a close back vowel [ɯ] or a mid central vowel [ɘ].«
Asu, E. L. & Teras, P. (2009). Estonian. Journal of the International Phonetic Association, 39 (3), 367–372.
Und eine etymologische Erläuterung: Der Name ›Jõeäär‹ bedeutet auf Estnisch ›Flussufer‹.