Neben dem gestern skizzierten morphosyntaktischen Phänomen unterscheiden sich das Deutsche, der Groninger Dialekt und das Niederländische auch im Bereich der Morphophonologie. In allen drei Idiomen gibt es einerseits schwache Verben, oft als ›regelmäßige Verben‹ bezeichnet, weil man all ihre Formen mithilfe von Suffigierungsregeln vom Infinitiv ableiten kann: kaufen – er kauft, wir kaufen, er kaufte, wir kauften, gekauft. Bei starken Verben andererseits ändert sich typischerweise der Stammvokal im Präteritum und im Partizip Perfekt: trinken – er trinkt, wir trinken (bis hierhin regelmäßig), er trank, wir tranken, getrunken. Die deutschen und niederländischen starken Verben, im Standard wie im Dialekt, decken sich übrigens zum größten Teil. Es gibt allerdings auch Verben, die im Deutschen stark sind und im Niederländischen schwach oder umgekehrt: kopen (kaufen) ist zum Beispiel stark (hij kocht, hij heeft gekocht anstelle von * hij koopte, hij heeft gekoopt). Was das Niederländische nicht kennt, hat das Gronings (wie auch andere westniederdeutsche Dialekte) häufig und das Deutsche selten: einen zusätzlichen Vokalwechsel (klinkerwisseling) im Präsens bei manchen, vor allem starken Verben. Bei diesen Verben steht in der 2. und 3. Person Präsens ein anderer Vokal als in der 1. Person, zum Beispiel: kieken – ik kiek, doe kiks, hai kikt, wobei die letzten zwei Formen mit [ɪ] statt [i] lauten. Deutsche Beispiele wären graben – ich grabe, du gräbst, er gräbt oder gelten – ich gelte, du giltst, er gilt. Ähnlich wie bei den starken Verben im Deutschen und im Niederländischen gibt es im Gronings eine Reihe von ›Ablautmustern‹ für den Vokalwechsel im Präsens. Manche Muster kommen häufig vor, andere nur bei einem einzigen Verb. Betrachtet man ausschließlich die Formen, bei denen ein Monophthong in einen Monophthong übergeht (Wechsel zu Diphthongen hin lasse ich außen vor), zeigt sich dies:
Ich gehe hier primär von Formen aus, die für das nördliche Gronings (Hogelandsters) gelten, aber mit ein paar Abstrichen trifft das Gesagte in allen Teilen der Provinz zu. Die Bewegung geht von geschlossenen zu offeneren Vokalen, wobei meist keine Stufe übersprungen wird. Ausnahmen sind der Wechsel von /ʊ/ zu /ɛ/ (wie in loaten – ik loat, doe lets, ein seltenes Muster) und der von /ʊ/ zu /a/ (wie in proaten – ik proat, doe prats, eines der häufigsten Muster). Das insgesamt mit Abstand häufigste Muster ist übrigens der oben bereits erwähnte Wechsel von [i] zu [ɪ] wie in kieken. Bezöge man auch Infinitive mit Diphthongen in diese Übersicht ein, bliebe wenig Konsistenz übrig: Tendenziell ist es so, dass der Vokal in der 2./3. Person identisch mit dem zweiten Element des Infinitiv-Diphthongs oder offener ist als dieses: Der Wechsel von /œʏ̯/ zu /ʏ/ (wie in vluiken – ik vluik, doe vluks, das wohl einzige Verb mit diesem Muster) ist ein Beispiel für Ersteres, der Wechsel von /aɪ̯/ zu /ɛ/ (wie in klaiden – ik klai, doe kleds, auch ein seltenes Muster) für Letzteres. Für die zwei häufigsten Muster, die von einem Diphthong ausgehen, stimmt das begrenzt, da sich in einem Fall die Vokalrundung ändert (von ungerundet zu gerundet) und im anderen Fall der Artikulationsort (von hinten nach vorne): Das ist zum einen der Wechsel von /aɪ̯/ zu /ʏ/ (wie in laigen – ik laig, doe lugs, eines von gut einem Dutzend Verben), zum anderen der von /aʊ̯/ zu /ʏ/ (wie in vrouten – ik vrout, doe vruts und etwa einem halben Dutzend anderen Verben). Allerdings gibt es auch ein paar merkwürdige Muster, die sich noch schwerer in eine Systematik einordnen lassen. Die Gesamtzahl der Muster liegt zwischen 15 und 20, wobei rund drei Viertel aller Verben mithilfe von bloß fünf Mustern gebildet werden können. All diesen Mustern gemein ist, dass sie im Verschwinden begriffen sind und die Formen zunehmend mit dem Infinitiv-Vokal gebildet werden. Es liegt nahe, zu vermuten, dass seltene Muster und weniger frequente Verben dabei stärker von der Regularisierung bedroht sind als hochfrequente Verben, die häufigen Mustern folgen.
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Hilfsverbkombinationen im Perfekt
Sprachvergleich ist oft interessant – nicht zuletzt bei nah verwandten Idiomen wie dem Deutschen, dem Groninger Dialekt und dem Niederländischen. In allen drei Sprachen lassen sich Kombinationen von Modal- und Wahrnehmungsverben (der Einfachheit halber hier ›Hilfsverben‹ genannt) und Vollverben bilden, wobei das Hilfsverb als finite Form erscheint: er kann mir helfen, er hört mich reden im Deutschen; hai kin mie helpen, hai heurt mie proaten auf Gronings; hij kan me helpen, hij hoort me praten im Niederländischen. Alles kein Problem. Diese Sätze lassen sich auch ins Perfekt setzen. Und dann wird’s lustig, denn es stellen sich Fragen: Verhalten sich Modal- und Wahrnehmungsverben identisch? Steht in der Verbalgruppe erst das Vollverb oder erst das Hilfsverb? Welche Rolle spielt der infinitivus pro participio (IPP)? So bezeichnet man einen Infinitiv, der in Positionen auftritt, die in weniger komplexen Konstruktionen vom Partizip Perfekt besetzt werden. Die folgende Übersicht zeigt, was in den drei Varietäten möglich ist. ›V-fin‹ steht für das finite Verb, ›Inf‹ für Infinitivformen, ›PP‹ für Partizipien. Rot schattierte Felder zeigen ungrammatische Formen, grün schattierte mögliche und präferierte Formen; dazwischen stehen die orangefarbenen Felder für mögliche, aber weniger bevorzugte und häufige Formen. Die drei Sprachen zeigen sich insgesamt erstaunlich eigenständig: Die Form beispielsweise, die im Groninger Dialekt am ältesten und verbreitetsten ist, kommt entweder in keiner der anderen Varietäten vor (bei den Modalverben) oder nur als weniger häufige Nebenform im Deutschen (bei den Wahrnehmungsverben). Die selteneren, dispräferierten Formen des Gronings dürften durch Sprachkontakt mit dem Niederländischen entstanden sein. Es wäre interessant zu erfahren, ob eine der präferierten Formen des Deutschen oder des Gronings in einer früheren Entwicklungsstufe des Niederländischen noch möglich war. Dazu sind mir aber bisher keine Quellen in die Hände gefallen.
Ritzenblitzer. Oder: Die internationale Analrinne.
Ich habe jüngst festgestellt, dass sich die Bezeichnungen für die beim Vornüberbeugen durch tief sitzende Hosen sichtbare Analrinne (Crena ani – besser bekannt als Gesäßspalte, Arschritze oder dergleichen) in den Sprachen Europas deutlich unterscheiden. Vor allem scheint nicht jede Sprache dieselben Berufe (bzw. überhaupt einen Beruf) damit zu assoziieren. Am allgemeinsten ist das Deutsche, wo man umgangssprachlich von einem Handwerkerdekolleté sprechen kann. Alternativ wird aber auch vom Maurerdekolleté (das die Deutsche Welle mal als Wort der Woche würdigte) oder vom Klempnerdekolleté geredet. Letzteres ist, so vermute ich, durch das Englische inspiriert, wo plumber’s crack bzw. plumber butt Begriffe für dieses Phänomen sind. Vor allem in Großbritannien sind auch builder’s bum und builder’s cleavage gängig. Der üblichste Begriff im Niederländischen ist bouwvakkersdecolleté, zu dem es übrigens auch als deutsche Entsprechung das Bauarbeiterdekolleté gibt. Das Niederländische hat – neben bildecolleté (Hinterndekolleté) als einer der wenigen Bezeichnungen, die ohne Nennung eines Berufs auskommen – noch das stratenmakersdecolleté aufzuweisen. Das Portugiesische bietet einen offenbar vor allem in Brasilien gebräuchlichen Begriff für die entblößte Ritze, und zwar cofrinho – wörtlich übersetzt: Sparschwein (das wiederum an den amerikanischen coin slot denken lässt). Die Formulierung pagar cofrinho (ins Sparschwein einbezahlen) verwendet man, wenn jemand dieses modischen Verbrechens schuldig wurde. Noch nie vorgekommen ist dies offenbar in Frankreich; einen französischen Begriff habe ich jedenfalls nicht finden können.
Update (22. 1. 2016):
Im vergangenen Jahr kam Adrien Hervé-Pellissier, ein Unternehmer aus dem französischen Rennes, in die Presse als Erfinder spezieller Unterwäsche, die das Entblößen der Analrinne bei vornübergebeugter Haltung verhindern soll. In der Berichterstattung über das neue Produkt tauchte dann auch ein französischer Begriff dafür auf: sourire du plombier (Lächeln des Klempners) – so auch der Name der Unterwäschemarke. Andernorts wurde die Variante sourire du maçon (Lächeln des Maurers) bzw. schlicht raie du maçon (Maurerritze) genannt. In der Zwischenzeit wurde mir noch ein weiterer französischer Begriff dafür zugetragen: parking de vélo (sinngemäß: Fahrradständer). Merci, Nathalie!
Apfel & Ei
Ich stellte neulich mit Erstaunen fest, dass der DUDEN nur einzige Form der Redewendung führt, die ich als ›für ’n Appel und ’n Ei‹ wiedergegeben hätte, und zwar ›für einen Apfel und ein Ei‹. Für mich klang das eher artifiziell und steif, weshalb ich mich fragte: Ist das wirklich die gängigere Form? Abgelenkt wurde ich von der Frage, woher die Redewendung eigentlich stammt – und im Grunde verrät das die von mir präferierte Form bereits. Sie muss in jedem Fall nördlich der Speyerer Linie entstanden sein, wo man im Dialekt ›Appel‹ sagt, während es südlich der Isoglosse ›Apfel‹ heißt. Während ich bei einer oberflächlichen Onlinerecherche früheste deutsche Belege aus der Mitte des 19. Jahrhunderts gefunden habe, scheint die Redensart in den Niederlanden bereits ein Jahrhundert früher in Verwendung gewesen zu sein. Allerdings war die Reihenfolge der Elemente hier anfangs anders – also erst das Ei, dann der Apfel. Über niederdeutsche Dialekte dürfte die Verbindung ins Standarddeutsche gewandert sein. Bei Google Books findet sich beispielsweise eine Grammatik der Mundart von Mülheim a. d. Ruhr von 1898, in der neben dieser noch andere stark ans Niederländische erinnernde Wendungen zu finden sind. Zurück zur Häufigkeit: Verschiedene Quellen liefern hierbei unterschiedliche Daten. Sucht man ganz einfach nach den entsprechenden Formen bei Google, macht die Apfel-Form rund 44 Prozent der Ergebnisse aus. Im Ngram Viewer von Google Books macht die Analyse erst ab frühestens 1975 Sinn, da in den vorherigen Jahren meist nur ein Treffer für eine der beiden Formen zu finden ist. Extrem hoch ist die Trefferzahl auch in den Jahren danach teilweise nicht. Berücksichtigt man die Jahre von 1975 bis 2008, kommt die Apfel-Form auf einen Anteil von gut 60 Prozent. 1989 ist das letzte Jahr, in dem eine der Formen ausschließlich vorkam. Zählt man nur die Werte aus den Folgejahren, reduziert sich der Apfel-Anteil leicht auf 55 Prozent. Im Deutschen Referenzkorpus/Archiv der Korpora geschriebener Gegenwartssprache macht die Apfel-Form dagegen bloß knapp 27 Prozent aus, wobei dieses Ergebnis primär auf Quellen aus Deutschland beruht. In Österreich werden beide Formen etwa gleich häufig verwendet; in der Schweiz kommt die Appel-Form, bei wiederum niedrigen Trefferzahlen, gar nicht vor. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls sagen, dass die Appel-Form in den betrachteten Quellensammlungen keine extreme Seltenheit darstellt oder teilweise sogar die Mehrheit der Belege ausmacht. Es wäre nicht falsch, diese Form in ein (mehr oder weniger) deskriptives Wörterbuch des Deutschen aufzunehmen.